Strategiepapier Vollakademisierung
Heilmittel

Strategiepapier: Wie die Vollakademisierung von Therapieberufen aussieht

Was wäre, wenn die Vollakademisierung der Therapieberufe umgesetzt werden würde?

Während die einen weiterhin die parallele Ausbildung von Heilmittelerbringer:innen per Berufsfachschule und Hochschule wünschen (Teilakademisierung), fordern andere die Vollakademisierung: die ausschließlich hochschulische Ausbildung von Therapieberufen. Seit 2009 werden in Deutschland bereits die primärqualifizierenden Studiengänge für Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie als Modellstudiengänge ausgetestet. Und Wunsch vieler ist, dass diese Standard werden. Doch wenn dem so wäre, wie genau würde dann die Umstellung ausschauen? Schließen dann von heute auf morgen alle Berufsfachschulen?

Strategiepapier zur möglichen Umsetzung der Vollakademisierung

Bereits 2018 haben der Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe (HVG) sowie der Verbund für Ausbildung und Studium in den Therapieberufen (VAST) ein entsprechendes Konzeptpapier entwickelt. „In diesem Strategiepapier werden die Notwendigkeit und die Machbarkeit einer vollumfänglich hochschulischen Ausbildung in Form von primärqualifizierenden Studiengängen dargelegt“, steht direkt zu Anfang des Dokuments geschrieben.

Ziel sei es, dass das Nebeneinander von schulischer und hochschulischer Ausbildung beendet und durch eine ausschließlich hochschulische Ausbildung abgelöst werden soll. Die Hochschulen, die hinter dem HVG stehen, sowie die Schul- bzw. Lehrer:innenverbände hinter dem VAST seien laut des Konzeptpapiers der Überzeugung, dass mit einer Vollakademisierung „nicht nur die Qualität und Attraktivität der Ausbildung gesteigert, sondern auch die Patient:innenversorgung verbessert und die bestehenden Engpässe am Arbeitsmarkt überwunden werden können“.

Zudem steht geschrieben: „HVG und VAST sprechen sich für die überfällige Angleichung an den europaweiten Ausbildungsstandard und damit für eine vollständig hochschulische Ausbildung aus, eine Teilakademisierung wird abgelehnt. Nur an Hochschulen, nicht an Schulen können sich Wissenschaft und Forschung entwickeln. Das Nebeneinander von schulischer und hochschulischer Ausbildung muss beendet werden, es stellt ein Hemmnis für die Weiterentwicklung der Ausbildung und der Patient:innenversorgung dar.“

Drei Wege des Übergangs

In dem Konzeptpapier werden folgende drei Möglichkeiten des Übergangs in die Vollakademisierung genannt:

  1. Eine Option ist, die Umsetzung durch einen entsprechenden Gesetzeserlass „ad hoc“ durchzuführen. Beispielsweise geschah dies 2007 in der Schweiz. Eine solche Lösung würde auf einen Schlag die Berufsfachschulen in Deutschland schließen und die Ausbildung an die Hochschulen verlagern.

  2. Eine weitere Option wäre es, die Vollakademisierung in einem sukzessiv verlaufenden Transformationsprozess umzusetzen. Vergleichbares wurde beispielsweise 2006 in Österreich durchgeführt. Die Zahl der Studiengänge und -plätze würde – nach einem vorgegebenen Masterplan – Jahr für Jahr ausgebaut, während die Ausbildungsplätze parallel dazu abgebaut werden würden. Diese Option wird vom HVG und vom VAST bevorzugt.

  3. Die dritte Möglichkeit wäre, den Wandel „dem Marktgeschehen zu überlassen, d. h. abzuwarten, inwieweit die schulischen Ausbildungsplätze nachfrage- und konkurrenzbedingt durch hochschulische Ausbildungsplätze ersetzt werden“. Hierbei bliebe der Staat passiv und würde lediglich die Modellstudiengängen zu Regelangeboten machen. Da diese passive Methode aber laut des Strategiepapiers eine jahrelange unklare Situation verursachen würde, lehnen sowohl HVG als auch VAST diese ab. „Anders als in der Pflege, wo abgestufte Aufgaben und Kompetenzprofile üblich sind, ist eine solche Differenzierung bzw. Hierarchisierung innerhalb der therapeutischen Berufe aufgrund ihrer geringen Größe und ihrer homogenen Aufgabenstruktur nach Ansicht von HVG und VAST weder sinnvoll noch umsetzbar.“

Es gibt noch weitere Strategiepapiere, die zur Umsetzung der Vollakademisierung veröffentlicht wurden – und diese auch andere (oft ähnliche) Optionen nennen. Beispielsweise haben der HVG und der VAST im Folgejahr zusammen mit verschiedenen Physiotherapie-Berufsverbänden ein „Eckpunktepapier zum Transformationsprozess von Berufsfachschulen der Physiotherapie 2030“ veröffentlicht (PDF). Hier wird unter anderem die Option vorgestellt, dass die Berufsfachschulen auch im Übergangszeitraum weiter erhalten bleiben, aber dabei die hochschulische Ausbildungs- und Prüfungsverordnung implementieren sollten.

Zu jenem Eckpunktepapier (das jedoch Logopäd:innen und Ergotherapeut:innen außer Acht lässt) erklärte Professor Bernhard Borgetto vom HVG im Gespräch mit DMRZ.de: „Um in der Zukunft eine zeitgemäße Berufsausbildung und -ausübung zu gewährleisten, werden mit diesem Eckpunktepapier die wichtigsten Ansätze für die Gestaltung des Überganges benannt. Entscheidend ist, dass Berufsfachschulen über Kooperationen sukzessive in das Hochschulsystem integriert werden sollen, sodass möglichst allen interessierten Lehrer:innen die Möglichkeit gegeben wird, diesen Wandel mitzuvollziehen.“

So viel Zeit wird für den Übergang eingeplant

Zurück zum Strategiepapier von November 2018, der neben Physiotherapie auch Logopädie und Ergotherapie abdeckt. Wie bereits erwähnt, ziehen HVG und VAST grundsätzlich den sukzessiv verlaufenden Transformationsprozess vor (Option 2). Für diese Reformvariante ließe sich laut des Konzeptpapiers ein Zeitraum von 10 bis 15 Jahren veranschlagen. In Österreich seien es nur 4 bis 5 Jahre gewesen, aber hier seien laut des Strategiepapiers auch weniger Schulen zu ersetzen gewesen als aktuell in Deutschland.

Als Startzeitpunkt wurde 2021 angepeilt, mit der damaligen Vision, dass dann die Modellphase endete und in eine reguläre Studienform überging. Schließlich wurden die Modellstudiengänge doch ein weiteres Mal verlängert, so dass der nun der neue Gesetzgeber (Kabinett Scholz) die Aufgabe hat, bis Ende 2024 zu entscheiden, wie mit den Modellstudiengängen für Therapieberufe umzugehen sei.

Übrigens erklären HVG/VAST im Strategiepapier, dass die exakte Dauer des Transformationsprozesses bei jeder Berufsgruppe unterschiedlich ausfallen könnte. „Für die Logopäd:innen – eine kleine Berufsgruppe, die zahlenmäßig der der Hebammen entspricht und die zusammen mit den akademischen Sprachtherapeut:innen schon jetzt einen hohen Akademisierungsgrad aufweist, könnte die Umstellungszeit kürzer ausfallen als in der Physio- und Ergotherapie“, steht in dem Strategiepapier geschrieben.

Der genaue Bedarf an Studiengängen: Was alles geändert werden muss

Zum Zeitpunkt des Strategiepapiers gab es in Deutschland lediglich 30 primärqualifizierende Therapiestudiengänge pro Jahr. Um eine Vollakademisierung zu erreichen, müssten die Hochschulen eine Lücke von 12.864 schulischen Ausbildungsplätzen an 528 Berufsfachschulen schließen. Konkret seien das 260 Physiotherapieschulen, 188 Ergotherapieschulen und 80 Logopädieschulen (Stand 2018).

Immerhin hätten Hochschulen den Vorteil, dass pro Lehrkraft mehr Menschen unterrichtet werden können. In Hörsälen einer Hochschule nehmen mehr Studierende Platz (durchschnittlich 60 Plätze) als an den Tischen einer Berufsschulklasse (durchschnittlich 24 Plätze).

Auf Basis dieser Begebenheiten kalkulierten HVG und VAST: Neben den bestehenden Therapiestudiengängen werden noch 199 neu zu schaffende Studiengänge jährlich benötigt. In Deutschland wäre demnach etwa jeder fünfte Hochschulstandort mit einem Therapiestudiengang auszustatten. Da die meisten bisherigen Modellstudiengänge an privaten Hochschulen stattfinden würden, sprechen sich HVG und VAST in Übereinstimmung mit dem Wissenschaftsrat und der Hochschulrektorenkonferenz aus, dass vor allem mehr öffentliche sowie kirchliche Hochschulen die neuen Therapiestudiengänge anbieten sollten.

Insbesondere jene Bundesländer, in denen bisher noch keine primärqualifizierenden Therapiestudiengänge angeboten wurden, sollten verstärkt berücksichtigt werden. Vor allem seien das Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Bremen und Rheinland-Pfalz. Das Gleiche gilt auch für Länder, die für ihre Einwohnerzahl aktuell relativ wenige Therapiestudiengänge anbieten würden (Bayern, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen).

Außerdem ließe sich laut des Strategiepapiers die Zahl der komplett neu zu schaffenden Studiengänge reduzieren, wenn auch Berufsakademien oder Duale Hochschulen für die neuen Studiengänge fit gemacht werden würden. Außerdem gibt es aktuell 75 ausbildungsintegrierende bzw. additive Studiengänge für Therapieberufe, die sich ebenfalls zu primärqualifizierenden Studiengängen ausbauen ließen.

Was würde aus Berufsfachschulen werden?

Im Strategiepapier wird auch genannt, was im Falle der Vollakademisierung aus den Berufsfachschulen, die bisher auf dem klassischen Weg ausbilden, geschehen wird. „Im Zuge der Verlagerung der Ausbildung auf die Hochschulen wäre ein Großteil der Schulen (schätzungsweise die Hälfte) zu schließen. Für diejenigen Schulen, die eine enge Kooperation mit den Hochschulen eingegangen sind oder in der Übergangszeit noch eingehen werden, kämen Fusionen mit Hochschulen oder Gründungen eigenständiger (Fach)Hochschule in Betracht. Einige private Träger haben diese Wege bereits beschritten.“ Auch gibt es für die Übergangszeit Ideen für „hybride“ Studiengänge, in denen die Ausbildungsinhalte an Berufsfachschulen von einer Hochschule bestimmt werden.

Um das Lehrpersonal für die zukünftige Vollakademisierung aufstocken zu können, würde es sich laut HVG/VAST anbieten, dass studierte Lehrende von Berufsfachschulen zu Hochschul-Lehrkräfte fortgebildet werden könnten. Für die nicht-akademisierten Lehrkräfte wären hingegen Anpassungsregelungen für die Zeit des Übergangs zu schaffen.

Die Voraussetzungen, die für eine Umstellung erfüllt sein müssten

Voraussetzung für den Start einer Vollakademisierung ist natürlich, dass diese in der Tat auch umgesetzt wird. Aktuell ist der Diskussion zu der Zukunft der Therapieberufe noch nicht abgeschlossen; die Entscheidung, dass es zu einer Teilakademisierung kommen könnte, ist nach wie vor denkbar.

Sollte die Wahl auf die Vollakademisierung fallen, müssten dann natürlich die Berufsgesetze und die zugehörigen Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen entsprechend überarbeitet werden. Auch das Anrechnen von bisherigen Ausbildungsleistungen ist wichtig: „Ein weiterer in den Gesetzen zu berücksichtigender Punkt, der gerade auch in der Übergangszeit wichtig ist, ist die Durchlässigkeit zwischen dem schulischen und dem hochschulischen Bildungsweg“, steht im Strategiepapier geschrieben.

Eine der wohl wichtigsten Voraussetzungen für die Vollakademisierung ist es aber, dass die höhere Qualifikation der Therapeut:innen auch entsprechend der Ausbildung zum Nutzen der Patient:innen eingesetzt wird. Sprich: Die Therapieberufe an sich müssen reformiert werden. Und die Leistungen müssten dann auch angemessen vergütet werden.

Sollte es zur Vollakademisierung kommen, dann ist der Weg dorthin kein leichter. „Die Gründung von PQS erscheint als eine große Aufgabe“, urteilen HVG und VAST, „wenn man aber bedenkt, dass alle Beteiligten, Hochschulen, Schulen, Berufsverbände, diese Umstellung wünschen und sich tatkräftig daran beteiligen (wollen), dürfte die Erweiterungsaufgabe durchaus bewältigbar sein.“

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